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Winnefeld-Archäologie-Geschichte-Mensch-Natur und Umwelt
Fächerübergreifende archäologische Untersuchungen im Bereich der
mittelalterlichen Dorfwüstung Winnefeld im Solling.
- Beiträge zur Erforschung der Kulturlandschaftsentwicklung im
Weserbergland
Hans - Georg Stephan
Zusammenfassung
Der Solling, ein Teil der die Oberweser begleitenden Bergländer und eines
der größten Waldgebiete Norddeutschlands, war über Jahrtausende hinweg
wirtschaftliches Hinterland der Altsiedelgebiete im Wesertal und Leinetal.
Vor allem der Rand des Gebirges wurde nach Bodenfunden und Ortsnamen zu
urteilen seit dem 8./9. Jahrhundert zunehmend besiedelt, wozu allerdings
bisher noch eindringliche archäologische und historische Studien
ausstehen. Ein nahezu flächenhaftes Netz von Siedlungen in Teilen des
Solling, vor allem im Süden, im weiteren Umfeld der um 1100 neu
gegründeten Burg Nienover, entstand jedoch erst im 12./13. Jahrhundert.
Diese Ausbausiedlungen des hohen Mittelalters und auch zahlreiche im
frühen Mittelalter gegründete Orte an den Gebirgsrändern und im Uslarer
Becken wurden fast alle im Spätmittelalter verlassen. Vor allem in den
Wäldern sind Kirchenruinen, Schutthügel, Wegespuren, Teiche, Mühlenplätze
und andere Gewerbeanlagen, stellenweise auch umfangreiche Flurrelikte,
insbesondere Wölbäcker und Ackerterrassen sowie Lesesteinhaufen, erhalten
geblieben. Deshalb kann dieses Gebiet als ein Eldorado der
mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kulturlandschafts- und
Wüstungsforschung betrachtet werden. Zumal die historisch-geographische
Wüstungsforschung, die einst an der Universität Göttingen einen
Schwerpunkt bildete, in fast ganz Deutschland nahezu zum Erliegen gekommen
ist, eröffnet sich auf diesem Arbeitsfeld nun eine der großen
Herausforderungen für die Archäologie.
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Seit gut einem Jahrzehnt stellt die systematische interdisziplinäre
Erkundung der Stadtwüstung Nienover einen Schwerpunkt der Archäologie in
Niedersachsen dar. Bisher fehlte es an einer angemessenen Berücksichtigung
der ländlichen Wüstungen. Ein Anfang wurde gemacht mit der Kirche der
Wüstung Winnefeld im Hochsolling ca. 3 km westlich von Nienover. Die
Siedlung wurde - wahrscheinlich auf Initiative der Grafen von Dassel und
Nienover - um 1200 planmäßig und großzügig in einem bereits zuvor als
offenes Weideland genutzten Areal angelegt. Höhepunkte der Entwicklung des
Ortes wie der Region waren wohl noch im 13. Jahrhundert erreicht. Das
relativ große Dorf Winnefeld verfügte nach Aufzeichnungen aus dem 19.
Jahrhundert über mindestens 23 Brunnen, von denen einer noch heute offen
liegt, und dürfte demnach wahrscheinlich etwa 25-30 Höfe gezählt haben.
Differenzierte Aussagen über die innere Dorfstruktur und die
Siedlungsentwicklung wären allerdings allein anhand von umfangreichen
archäologischen und bodenwissenschaftlichen Untersuchungen im Dorf
möglich, die bislang noch ausstehen. Die Siedlung liegt am Oberlauf des
Reiherbaches und erstreckt sich zu beiden Seiten auf schätzungsweise etwa
250-300, eventuell bis zu 400 m Länge.
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Anhand der Funde aus dem Bereich der Kirche ist die Aussage statthaft,
dass diese von etwa 1150/1200 bis 1450 genutzt wurde. Wahrscheinlich
bestand ein relativ großer, mit einer Palisade umgrenzter und durch ein
steinernes Tor zugänglicher Kirchhof. Die Monumentalität und baulich
anspruchsvolle Gestalt der freigelegten, vermutlich komplett eingewölbten,
spätromanischen Dorfkirche der Zeit um 1150-1200 übertrifft mit ca. 8,75 m
mal 29,8 m und einer Grundfläche von 150 qm ohne die Turmobergeschoße
unsere Erwartungen bei Weitem. Es handelt sich um einen zweijochigen
Apsidensaal mit Westturm und um Mauerstärke eingezogenem Chorquadrum sowie
leicht eingezogener Apsis.
Die massiven Fundamente aus lokal anstehenden Bruchsteinen blieben gut
erhalten, z. T. auch Reste des aufgehenden Mauerwerks. Vom
Sollingplattenboden hatten sich ebenso wie von der Dachdeckung aus
Hohlziegeln und später zumindest partiell (Turm oder Chor ?) aus
Buntsandsteinplatten nur geringe Reste erhalten. Die Kirche war innen
komplett verputzt und geweißt.Geringe Farbspuren weisen auf Wandmalereien
im Innenraum hin, im Chor sind Ritzfugen im Putz erhalten und ebendort in
einem kleinen Rest eine dünne Verputzhaut außen. Die Kirche findet gute
Vergleichsbeispiele eher in westfälischen als in hessischen und
niedersächsischen romanischen Kirchen der zweiten Hälfte des 12.
Jahrhunderts.
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Funde ergeben trotz unerwartet massiver Störungen aus jüngerer Zeit
bemerkenswerte Einblicke in die in mancher Hinsicht opulente Ausstattung
einer mittelalterlichen Pfarrkirche (bemalte romanische und gotische
Fenster, Reliquienkästchen etc.) und in den Geldumlauf im 13./14.
Jahrhundert. Eine Herrichtung der Kirchenfundamente und eine Präsentation
des Dorfareals für die breitere Öffentlichkeit sind sehr wünschenswert und
sollen nach Möglichkeit bald realisiert werden. In Kooperation mit
deutschen, tschechischen und polnischen Studenten und jungen Kollegen aus
der Anthropologie und Paläopathologie konnte erstmals im Solling ein
mittelalterlicher Dorffriedhof in einem einigermaßen repräsentativen
Ausschnitt erfasst werden. Trotz der erwartungsgemäß infolge des sauren
Bodens nicht allzu guten Erhaltung der Knochen von etwa 100-150
Individuen, von denen ein großer Teil im Kindesalter verstarb, haben wir
gute erste Erkenntnisse zu den Arbeits- und Lebensbedingungen einer
mittelalterlichen Dorfbevölkerung gewonnen. Die Zahl der restlos
vergangenen Skelette muss um ein Vielfaches höher gelegen haben, sie mag
in der Größenordnung von etwa 1000-2000 Individuen liegen.
Anhand weiterer Untersuchungen unter verstärktem Einsatz
geowissenschaftlicher Analyse- und Prospektionsmethoden sollen weitere
Fragen, wie z. B. die Eingrenzung des Kirchhofes, des Dorfes und der Flur
in den nächsten Jahren weiter erforscht werden. Im Spätmittelalter rissen
Starkregen mächtige Kerben nicht allein in die Flur. Im engsten Bereich um
die Kirche entstand eine etwa 15 m breite und bis zu 2, 5 m tiefe Rinne
-möglicherweise wurden dabei Teile von Gehöften von den Fluten und
Schlammlawinen mitgerissen - ein bislang im mitteleuropäischen Bergland
einzigartiger Befund.
Die Verödung von Winnefeld und zahlreichen anderen Orten im Solling ist
mutmaßlich durch vielfältige Ursachen begründet, die noch nicht alle
hinreichend gut fassbar sind. Klimatische Einbrüche seit dem frühen 14.
Jahrhundert, Bodenerosion, Seuchen und Agrarkrisen werden dabei ebenso
eine Rolle gespielt haben wie Umstrukturierungen in der
Siedlungslandschaft und der Wirtschaft im Spätmittelalter. Zu nennen sind
in diesem Kontext der dramatische Bedeutungsverlust von Stadt, Burg und
Grafschaft Nienover bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhundert und
die Entstehung von Burg und Markt Lauenförde im Wesertal im Gefolge des
Übergangs der Herrschaft im Solling an die Welfen im Jahre 1303 und den
Bischof von Hildesheim 1310. Es bleibt zu hoffen, dass etliche der durch
unsere Grabungen und Geländearbeiten aufgeworfenen Fragen anhand von z. T.
bereits in die Wege geleiteten interdisziplinären Forschungen in den
kommenden Jahren geklärt werden können.
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