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      12.6.2008  
         
      Altgrabungen    
        Dorfkirche Winnefeld    
         
         
         
         
         
             
        Winnefeld-Archäologie-Geschichte-Mensch-Natur und Umwelt


Fächerübergreifende archäologische Untersuchungen im Bereich der mittelalterlichen Dorfwüstung Winnefeld im Solling.

- Beiträge zur Erforschung der Kulturlandschaftsentwicklung im Weserbergland

Hans - Georg Stephan

Zusammenfassung

Der Solling, ein Teil der die Oberweser begleitenden Bergländer und eines der größten Waldgebiete Norddeutschlands, war über Jahrtausende hinweg wirtschaftliches Hinterland der Altsiedelgebiete im Wesertal und Leinetal. Vor allem der Rand des Gebirges wurde nach Bodenfunden und Ortsnamen zu urteilen seit dem 8./9. Jahrhundert zunehmend besiedelt, wozu allerdings bisher noch eindringliche archäologische und historische Studien ausstehen. Ein nahezu flächenhaftes Netz von Siedlungen in Teilen des Solling, vor allem im Süden, im weiteren Umfeld der um 1100 neu gegründeten Burg Nienover, entstand jedoch erst im 12./13. Jahrhundert. Diese Ausbausiedlungen des hohen Mittelalters und auch zahlreiche im frühen Mittelalter gegründete Orte an den Gebirgsrändern und im Uslarer Becken wurden fast alle im Spätmittelalter verlassen. Vor allem in den Wäldern sind Kirchenruinen, Schutthügel, Wegespuren, Teiche, Mühlenplätze und andere Gewerbeanlagen, stellenweise auch umfangreiche Flurrelikte, insbesondere Wölbäcker und Ackerterrassen sowie Lesesteinhaufen, erhalten geblieben. Deshalb kann dieses Gebiet als ein Eldorado der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kulturlandschafts- und Wüstungsforschung betrachtet werden. Zumal die historisch-geographische Wüstungsforschung, die einst an der Universität Göttingen einen Schwerpunkt bildete, in fast ganz Deutschland nahezu zum Erliegen gekommen ist, eröffnet sich auf diesem Arbeitsfeld nun eine der großen Herausforderungen für die Archäologie.
 


Seit gut einem Jahrzehnt stellt die systematische interdisziplinäre Erkundung der Stadtwüstung Nienover einen Schwerpunkt der Archäologie in Niedersachsen dar. Bisher fehlte es an einer angemessenen Berücksichtigung der ländlichen Wüstungen. Ein Anfang wurde gemacht mit der Kirche der Wüstung Winnefeld im Hochsolling ca. 3 km westlich von Nienover. Die Siedlung wurde - wahrscheinlich auf Initiative der Grafen von Dassel und Nienover - um 1200 planmäßig und großzügig in einem bereits zuvor als offenes Weideland genutzten Areal angelegt. Höhepunkte der Entwicklung des Ortes wie der Region waren wohl noch im 13. Jahrhundert erreicht. Das relativ große Dorf Winnefeld verfügte nach Aufzeichnungen aus dem 19. Jahrhundert über mindestens 23 Brunnen, von denen einer noch heute offen liegt, und dürfte demnach wahrscheinlich etwa 25-30 Höfe gezählt haben. Differenzierte Aussagen über die innere Dorfstruktur und die Siedlungsentwicklung wären allerdings allein anhand von umfangreichen archäologischen und bodenwissenschaftlichen Untersuchungen im Dorf möglich, die bislang noch ausstehen. Die Siedlung liegt am Oberlauf des Reiherbaches und erstreckt sich zu beiden Seiten auf schätzungsweise etwa 250-300, eventuell bis zu 400 m Länge.
 


Anhand der Funde aus dem Bereich der Kirche ist die Aussage statthaft, dass diese von etwa 1150/1200 bis 1450 genutzt wurde. Wahrscheinlich bestand ein relativ großer, mit einer Palisade umgrenzter und durch ein steinernes Tor zugänglicher Kirchhof. Die Monumentalität und baulich anspruchsvolle Gestalt der freigelegten, vermutlich komplett eingewölbten, spätromanischen Dorfkirche der Zeit um 1150-1200 übertrifft mit ca. 8,75 m mal 29,8 m und einer Grundfläche von 150 qm ohne die Turmobergeschoße unsere Erwartungen bei Weitem. Es handelt sich um einen zweijochigen Apsidensaal mit Westturm und um Mauerstärke eingezogenem Chorquadrum sowie leicht eingezogener Apsis.

Die massiven Fundamente aus lokal anstehenden Bruchsteinen blieben gut erhalten, z. T. auch Reste des aufgehenden Mauerwerks. Vom Sollingplattenboden hatten sich ebenso wie von der Dachdeckung aus Hohlziegeln und später zumindest partiell (Turm oder Chor ?) aus Buntsandsteinplatten nur geringe Reste erhalten. Die Kirche war innen komplett verputzt und geweißt.Geringe Farbspuren weisen auf Wandmalereien im Innenraum hin, im Chor sind Ritzfugen im Putz erhalten und ebendort in einem kleinen Rest eine dünne Verputzhaut außen. Die Kirche findet gute Vergleichsbeispiele eher in westfälischen als in hessischen und niedersächsischen romanischen Kirchen der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts.
 


Funde ergeben trotz unerwartet massiver Störungen aus jüngerer Zeit bemerkenswerte Einblicke in die in mancher Hinsicht opulente Ausstattung einer mittelalterlichen Pfarrkirche (bemalte romanische und gotische Fenster, Reliquienkästchen etc.) und in den Geldumlauf im 13./14. Jahrhundert. Eine Herrichtung der Kirchenfundamente und eine Präsentation des Dorfareals für die breitere Öffentlichkeit sind sehr wünschenswert und sollen nach Möglichkeit bald realisiert werden. In Kooperation mit deutschen, tschechischen und polnischen Studenten und jungen Kollegen aus der Anthropologie und Paläopathologie konnte erstmals im Solling ein mittelalterlicher Dorffriedhof in einem einigermaßen repräsentativen Ausschnitt erfasst werden. Trotz der erwartungsgemäß infolge des sauren Bodens nicht allzu guten Erhaltung der Knochen von etwa 100-150 Individuen, von denen ein großer Teil im Kindesalter verstarb, haben wir gute erste Erkenntnisse zu den Arbeits- und Lebensbedingungen einer mittelalterlichen Dorfbevölkerung gewonnen. Die Zahl der restlos vergangenen Skelette muss um ein Vielfaches höher gelegen haben, sie mag in der Größenordnung von etwa 1000-2000 Individuen liegen.

Anhand weiterer Untersuchungen unter verstärktem Einsatz geowissenschaftlicher Analyse- und Prospektionsmethoden sollen weitere Fragen, wie z. B. die Eingrenzung des Kirchhofes, des Dorfes und der Flur in den nächsten Jahren weiter erforscht werden. Im Spätmittelalter rissen Starkregen mächtige Kerben nicht allein in die Flur. Im engsten Bereich um die Kirche entstand eine etwa 15 m breite und bis zu 2, 5 m tiefe Rinne -möglicherweise wurden dabei Teile von Gehöften von den Fluten und Schlammlawinen mitgerissen - ein bislang im mitteleuropäischen Bergland einzigartiger Befund.

Die Verödung von Winnefeld und zahlreichen anderen Orten im Solling ist mutmaßlich durch vielfältige Ursachen begründet, die noch nicht alle hinreichend gut fassbar sind. Klimatische Einbrüche seit dem frühen 14. Jahrhundert, Bodenerosion, Seuchen und Agrarkrisen werden dabei ebenso eine Rolle gespielt haben wie Umstrukturierungen in der Siedlungslandschaft und der Wirtschaft im Spätmittelalter. Zu nennen sind in diesem Kontext der dramatische Bedeutungsverlust von Stadt, Burg und Grafschaft Nienover bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhundert und die Entstehung von Burg und Markt Lauenförde im Wesertal im Gefolge des Übergangs der Herrschaft im Solling an die Welfen im Jahre 1303 und den Bischof von Hildesheim 1310. Es bleibt zu hoffen, dass etliche der durch unsere Grabungen und Geländearbeiten aufgeworfenen Fragen anhand von z. T. bereits in die Wege geleiteten interdisziplinären Forschungen in den kommenden Jahren geklärt werden können.