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Stadtwüstung Nienover
Während viele zehntausend verlassene mittelalterliche ländliche Siedlungen
und Höfe in weiten Regionen Europas radikale Veränderungen in der
Raumstruktur manifestieren (z.B. Wüstung Winnefeld), gibt es nur relativ
wenige verlassene Städte dieser Zeit. Noch weniger sind erforscht,
obgleich quasi eingefrorene Beispiele aus der für Jahrhunderte prägenden
und den Stadtgrundriß bis heute bestimmenden Frühzeit des Städtewesens für
die Grundlagenforschung unverzichtbar sind. Man muß sich dabei klar
machen, daß unsere historischen Altstädte komplexe Gebilde sind, deren
heutiges Erscheinungsbild nicht die "mittelalterliche Stadt" darstellt,
die mancher Führer suggeriert, sondern Ergebnis jahrhundertelanger
Veränderungen.
In Nienover konnte seit 1993 das ca. 300 mal 500 m große Gelände der
völlig vergessenen mittelalterlichen Stadt wissenschaftlich erkundet und
seit 1996 durch planmäßige archäologische Ausgrabung erforscht werden.
Freie Rekonstruktion von
Burg und Stadtwüstung Nienover um 1200 mit grobem Verlauf der Straßen. Aus
darstellungstechnischen Gründen reduzierte Zahl von Häusern und Straßen,
jedoch mit Eintragung der bis Sommer 2000 greifbaren Hauptelemente.
Kaufhaus/Rathaus frei interpoliert, Lage der Kirche nach vorliegenden
Indizien ungesichert, Baugestalt orientiert an der benachbarten
romanischen Dorfkirche der Zeit um 1200 in der Dorfwüstung Winnefeld
(Entwurf und Ausrüstung Thomas Küntzel M.A.)
Aus bescheidenen Anfängen
hat sich ein interdisziplinäres Forschungsprojekt entwickelt, das seit
1999 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird und zu den
wenigen langfristigen universitären Plangrabung in Europa gehört.
Nienover, verkleinerter
Ausschnitt aus der Deutschen Grundkarte 1:5000. Im Osten das Schloss, im
Tal Gebäude des ehemaligen unteren Vorwerkes (1), der barockzeitliche
Schafstall (2), die Mühle (3), sowie das Gestüt (4) am Nordosthang. Im
westlichen Vorgelände des Schlosses auf dem Plateau, weitgehend etwa im
Verlauf der 200 m -Höhenlinie, die ungefähre Außenbegrenzung der
Stadtbefestigung (5); 6 Lage des ehemaligen oberen Vorwerks; 7 Lage des
Wallschnitts von 1997
In ersten Umrissen zeichnet sich das Bild einer typischen kleineren Stadt
des 13. Jahrhunderts ab. Die Gesamtfläche mit Burg und Befestigung betrug
etwa 10 ha, die Innenfläche ca. 7 ha. Eine stattliche doppelte
Wall-Graben-Befestigung von bis zu 40 m Breite und einen Höhenunterschied
von max. ca. 10 m ohne die anzunehmende Palisade schützte die Stadt. Gut
erkennbar ist die etwa 10 m breite von Westen nach Osten durch die Stadt
verlaufende Hauptstraße, zu der im Süden und Norden je eine Straße
annähernd im leichten Bogen auf die Tore zuführte. Für diese sind Pflaster
gesichert, während die Hauptstraße infolge von Bodenerosion und späterer
Nutzung nur mit Fahrspuren und als Hohlweg faßbar ist. Nur indirekt anhand
der Bebauung ist eine Nord-Südstraße zu erschließen. Besonders an der
Hauptstraße ist eine dichte geregelte Bebauung vor allem anhand von
Kellern erfaßbar. Sie zeigt vom Zentrum auf der Höhe des Plateaus und in
der Nähe der Burg ausgehend anhand der Größe der Bauten eine geradezu
ideal-typische Hierarchie. Die Dimensionen und die Bauweise (massiv in
Bruchstein, leichte Bruchsteinmauern, kombinierte Holz- und
Steinfundamente, Holzbauweise) nehmen zum Westtor hin kontinuierlich ab;
Außerdem sind die Keller auf der Südseite der Straße deutlich stattlicher
als auf der Nordseite. Zudem zeichnet sich ab, daß nach der ersten
kriegerischen Zerstörung um 1210/20 bereits größere Teile der Stadt
veröden oder auch dort keine aufwendigen Keller mehr errichtet werden, so
auch im weniger zentral gelegenen Nordwestteil der Hauptstraße. Die
Rekonstruktion der Häuser ist erhaltungsbedingt schwierig, da es sich
überwiegend um Fachwerkgebäude auf Schwellen handelte. Nur bei Nebenbauten
kommen häufiger in die Erde eingetiefte Pfosten vor. Die größeren Keller
lagen zumeist wohl im rückwärtigen Teil der Häuser, darüber lag ein
abgeteilter Wohnraum. Vereinzelt könnten Steinwerke vorhanden gewesen
sein, die Regel waren kombinierte Holz-Stein-Bauweisen. Die kleineren
Keller lagen z.T. mitten im Haus, das in der Regel einräumig gewesen sein
wird und über eine offene Feuerstelle verfügte. Die Bauten können ein- und
mehrstöckig gewesen sein. Vor allem bei den größeren Häusern lag wohl eine
seitliche Einfahrt zum Hof neben dem Haupthaus; In der Zeit um 1200 wird
man mit etwa 100-150 bebauten Parzellen rechnen können, also mit etwa
400-800 Einwohnern. Zur Zeit der zweiten Zerstörung wird es vielleicht
weniger als die Hälfte gewesen sein. Das wird durch den drastischen
Bedeutungsverlust der Grafen in der Zwischenzeit und die Gründung
zahlreicher Städte und Märkte durch konkurrierende Märkte bedingt sein.
Die Pfarrei ist 1231 belegt, ein Pfarrer um 1290. Als dieser 1327
weggezogen war, und die civitas 1318/20 erst- und letztmalig genannt wird,
stand in der Stadt nach unserem Forschungen kaum mehr ein Haus. Die Kirche
ist noch nicht gefunden.
Reiche Funde künden vom täglichen Leben der Einwohner. Als Handwerke sind
vor allem metallverarbeitende Gewerbe wie Eisenverhüttung und
-verarbeitung, Buntmetallguß und Bearbeitung, Goldschmiedehandwerk
greifbar, die z.T. auf regionalen Bodenschätzen beruhen. Andere
Einkunftsquellen wie Textilverarbeitung und Handel sind schwer zu
erfassen. Münzfunde lassen eine starke Ausrichtung des Handels nach Westen
erahnen. Indizien für eine direkte oder indirekte Beteiligung am Handel
mit England (handwerkliche Produkte + Getreide gegen englische Tuche)
lassen die Münzfunde erkennen.
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